Mehr Furcht vor der Chemie als vor dem Rauch

13.12.2008  In einem scheinen sich alle einig zu sein: „Eine Welt ohne Chemie ist besser“. Aber was passiert mit Partygästen, die sich nach dem Essen eine Zigarette anzünden und krebserzeugende Chemie im ganzen Raum verteilen? Der Gastgeber lächelt und sagt hinterher: „Da kann man halt nichts gegen machen.“ Nichtraucher, die sich gegen das Rauchen in ihrer Umgebung wehren, werden als militante Anti-Raucher abgestempelt, die im besten Fall belächelt, im schlimmsten Fall beschimpft, aber in jedem Fall nicht ernst genommen werden.

Egal, ob Acrylamid in Pommes Frites, Dioxin in Bio-Eiern oder Semicarbazid in den Deckeln von Babynahrung – innerhalb kürzester Zeit weiß jeder Bundesbürger über Vorkommen und Bedrohungen der gefährlichen Chemikalien Bescheid und fürchtet sich davor. Chemophobia nennt der Fachmann die oft vielleicht übertriebene Angst vor der bösen Chemie, die wie der Bösewicht mit Pferdefuß pauschal als schlecht hingestellt wird. Doch was tut die chemische Industrie nicht alles Gutes für uns: sie produziert Vitamine in Tablettenform, damit wir alle auch gesund bleiben können, entwickelt Waschmittel für Seidenblusen und Medikamente gegen Heuschnupfen und macht bunten Kunststoff für das Gummispielzeug unserer Kinder. Chemie ist einfach überall und nicht immer schlecht. Doch das sieht der Hauptteil der Bevölkerung wohl anders.

Über 2.800 verschiedene Chemikalien stecken in einer Zigarette

Umso erstaunlicher, dass so viele Substanzen als große Gefährdung gelten, wenn sie einem bei der Arbeit oder in Zeitungsartikeln begegnen, aber als harmlos, wenn sie dem Gast einer gutlaufenden Party um die Nase gepustet werden. Denn sehen wir uns an, wie viel Chemie in Zigaretten steckt: über tausend Chemikalien, darunter Kohlenmonoxid, Blausäure, Nikotin, allesamt höchst giftig; krebserzeugendes Benzol, Formaldehyd, Benzypyren; so einige Schwermetalle, wie Cadmium, und nicht zu vergessen radioaktive Stoffe, beispielsweise Polonium 210. Ein hübsches Potpourri an wirklich böser Chemie.

Benzol ist eine der vielen Substanzen, die von der Zigarette in den ETS (Environmental Tobacco Smoke) übergeht, dem Tabakrauch in der Raumluft, den auch Passivraucher einatmen. Benzol hat die höchstmögliche Giftklasse, seine Dämpfe sind beim Einatmen giftig, außerdem schädigt es das Erbgut, führt zu Schädigungen der inneren Organe und des Knochenmarks. Ist es in braunen Flaschen abgefüllt, starrt den Benutzer nicht nur ein Totenkopf an, sondern auch der Sicherheitshinweis S53: „Exposition vermeiden – vor Gebrauch besondere Anweisungen einholen. – Nur für den berufsmäßigen Verwender“. Chemiker, die mit Benzol arbeiten müssen, dürfen dies selbstverständlich nur im Abzug tun – wie es auch für viele andere Chemikalien die Regel ist. Laborkittel im Pausenraum zu tragen ist übrigens verpönt – wegen der vielen Chemie, die dranhängen könnte. In den Pausenräumen so einiger Forschungsgruppen an den Universitäten ist dagegen dichter Zigarettenqualm, inklusive Benzoldämpfe, gang und gäbe. Das einzige Gegenmittel gegen diese Chemie­belastung ist es, sein Pausenbrot draußen auf der Wiese zu verzehren.

Nach wie vor ist die Bevölkerung zu wenig über das Rauchen aufgeklärt

Wieso gilt die gleiche Substanz mal als furchtbar böse und mal als tolerierbar? Möglicherweise, weil die Bevölkerung nach wie vor zu wenig über das Rauchen aufgeklärt ist. Zwar besitzt inzwischen jeder pauschales Wissen zum Thema Rauch wie „Rauchen ist ungesund“, „Raucher sterben früher“, zwar wissen die meisten auch, dass Zigaretten Nikotin enthalten. Aber dass Nikotin auf Platz 13 der giftigsten Substanzen überhaupt steht und damit giftiger­ ist als Zyankali und Arsen – das scheint größtenteils unbekannt zu sein. So durfte sich der Fachmann bei der beliebten Quizsendung mit Günther Jauch stark wundern, als es um die Frage ging „Wie heißt kein Kriminalroman von Agatha Christie“? Der Kandidat wählte die Antwort „Nikotin“ – und seine Begründung: „Nikotin kann ja überhaupt nicht giftig sein, schließlich ist es in Zigaretten und Nikotin-Pflastern enthalten.“ Leider falsch. Agatha Christie schrieb tatsächlich einen Krimi namens Nikotin, denn für Morde eignet es sich hervorragend. Jeder Raucher würde sofort tot umfallen, ginge die Menge an Nikotin in einer handelsüblichen Zigarre komplett in das Blut über. Aber zurück zur Quizsendung: Der sonst so informierte und hilfsbereite Quizmaster befand die Antwort des Kandidaten für „logisch“ und war hinterher selbst erstaunt, dass „Agatha Christie tatsächlich einen Roman mit diesem Namen schrieb“. Auch die Redaktion im Hintergrund hielt es nicht für nötig zu erläutern, wieso sich Nikotin so gut für einen Mord eignet und dass bereits weniger als 100 Milligramm tödlich sind. Und so wurde einem Millionenpublikum untergejubelt, dass Nikotin nicht schlimm sein kann, da es in Zigaretten enthalten ist. Die Tabakindustrie wird sich sehr gefreut haben.